Die derzeitigen widrigen Umstände schenken uns doch manchmal auch schöne Geschichten.

Bei minus 6 C° schlenderte ich morgens um kurz nach acht an der Hand des zweijährigen Teo über das hintere Betriebsgelände des Klinikums. Meine Nasennebenhöhlenentzündung war noch nicht auskuriert. Aber Teos Bruder musste zu seiner Atemtherapie und die Corona-Bestimmungen erlaubten nur eine Begleitperson. So hatte ich seiner Mutter versprochen, trotz meiner Abgeschlagenheit draußen auf Teo aufzupassen.

Teos Tempo reichte nicht aus, um warm zu werden. Ich fror. Ich musste an die Geschichte denken, die meine Tochter mir einige Abende zuvor erzählt hatte. Die französische Abenteurerin Alexandra David Néel war vor über hundert Jahren allein im fernen Osten unterwegs und hatte u.a. ein Jahr im Himalaya als Einsiedlerin gelebt. Bei einem Eremiten hatte sie zuvor gelernt, der Kälte zu trotzen, indem sie ihr „inneres Feuer“ entfachte.

Inneres Feuer entfachen. Wie macht man das nur, fragte ich mich. Teo unterbrach meine Gedanken: Traktor! Er zog mich in die Richtung eines abgestellten Schneeräumfahrzeugs. Zusammen bestaunten wir das Fahrzeug von allen Seiten. Anschließend erklommen wir einen kleinen Hügel, zu dem eine vermooste Treppe hinaufführte. Oben war nur ein Kanaldeckel. Teo untersuchte den Kanaldeckel und genoss die Aussicht. Dann zeigte er in einiger Entfernung auf einen Haufen aus Holzresten und verrottenden Baumstümpfen. Da wollte er hin. Ich heuchelte ein bisschen Begeisterung und war vor allem froh, dass wir uns wenigstens langsam wieder in Bewegung setzten.

Endlich standen wir vor dem Holzhügel. Teo hob ein herumliegendes Holzscheit auf, warf es dazu und sagte: Feuer machen! Er ging näher ran, nestelte etwas mit den kleinen Fingerchen herum und fing plötzlich an, zu strahlen. Das Feuer schien zu brennen. Er ging sofort los, hob einen umherliegenden Ast auf und warf ihn ins Feuer. Als hätte ich es noch nicht kapiert, sagte er auffordernd: Mehr Holz! Ich bückte mich, hob ein Holzscheit auf und wollte es ihm anreichen. Er zeigte auf den Holzhaufen: Du! Da Feuer!

Jetzt legten wir beide richtig los, wir sammelten alles aus der Umgebung auf und schleppten es auf den Haufen. Zwischendurch streckten wir die Hände aus und hielten sie übers Feuer. Teo strahlte vor Glück, während seine roten Händchen doch irgendwie ziemlich kalt aussahen. Seine Handschuhe, waren in meiner Hosentasche. Aber die Mutter hatte mich schon gewarnt: Teo mag keine Handschuhe und hier am Feuer, wollte ich ihm sie nicht anbieten. Das wäre mir wie Verrat vorgekommen.

Wir fanden ein altes Stuhlbein und eine kaputte Obstkiste, alles kam ins Feuer. Teos Feuer war auch mein Feuer geworden, man konnte es wirklich spüren. Als ich meinte, jetzt hätten wir alles Hölzerne gefunden, wies Teo auf allerkleinste Zweiglein, die noch im Gras verstreut lagen. Wir sammelten eifrig weiter und nach einer Weile hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass es an unserem Holzhaufen wärmer war als in der Umgebung. Zusammen rieben wir uns die Hände über dem Holzhaufen.

Langsam wurde es Zeit. Wir verabschiedeten uns von unserem Feuer und schlenderten Richtung Krankenhauseingang. Ich nahm Teos Hand. Meine Hand war zu kalt, um seine zu wärmen. Ich bot ihm die Handschuhe an. Jetzt ließ er sie sich, ohne zu murren, überstreifen und zeigte auf einen Herrn, der gerade im Rollstuhl herangeschoben wurde. Auf dessen Schoß glänzte ein „nagelneuer“ Plastik-Fuß samt Unterschenkel in der Sonne. Teos Interesse war von etwas Neuem geweckt. Ich war dagegen in Gedanken noch bei unserem imaginären Feuer und wunderte mich über das eben Erlebte. Vielleicht stimmt es doch, was manche sagen: Dass wir am Anfang unseres Lebens alles Wissen in uns tragen und dieses Wissen uns nur leider, leider mit der Zeit verloren geht.

Anja Gumprecht am 12. Januar 2022